In unterschiedlichen Verfahrensstadien kann es dazu kommen, dass Verurteilte zwar zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, diese aber nicht oder nicht vollständig verbüßen müssen. Die Freiheits- oder Reststrafe steht zunächst nur auf dem Papier und hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Leben des Betroffenen. Das Modell von Bewährungsstrafen wurde eingeführt, um eine Gefängnisstrafe als angemessene Reaktion aussprechen zu könne, ohne dem Verurteilten aber tatsächlich unmittelbar ins Gefängnis zu bringen.
Stattdessen wird der Verurteilte mit einer Bewährungszeit zwischen 2 – 5 Jahren belegt und soll der Justiz in dieser Zeit beweisen, dass er „auf dem Pfad der Tugend zurückkehrt“. Flankierend werden oft bestimmte Auflagen wie der Pflicht zum Kontakt zu einem Bewährungshelfer, der Zahlung einer Geldauflage oder das Ableisten von Sozialstunden auferlegt. Das hat das Ziel, die Strafe nicht nur auf dem Papier stehen zu lassen. Sie soll „spürbar“ sein und der Verurteilte soll sich bewusst sein, dass er ein Fehlverhalten an den Tag gelegt hat. Ein Einzug in die Justizvollzugsanstalt ist nach wie vor möglich, wenn er die Erwartung der Justiz enttäuscht. Juristen sprechen gerne vom sog. Damoklesschwert, das über dem Verurteilten schwebt. Die Angst vor dem Gefängnis soll ihn davon abhalten, neue Taten zu begehen.
Obwohl die Rückfallquoten im Fall von Bewährungsstrafen niedrig sind und Bewährungsstrafen statistisch die beste Aussicht auf eine erfolgreiche Resozialisierung bieten, kommt es doch zu einer Vielzahl von Widerrufen. Dies kann unterschiedliche Gründe haben. Es ist aber zu erkennen, dass die Justiz in diesem Bereich weder zögert noch langsam ist. Der formale Vorgang sieht aus der Sicht des Betroffenen wenig dramatisch aus. Prüft das Gericht einen Widerruf – oft auf Antrag der Staatsanwaltschaft – wird es dem Betroffenen über das Bewährungsverfahren informieren, das Fehlverhalten beschreiben und ihm eine „Gelegenheit zur Stellungnahme“ binnen einer kurzen Zeit (oft nur eine Woche) einräumen. Was Betroffene aber nicht wissen: In der Regel ist schon längst eine vorläufige Entscheidung des Gerichts nach Aktenlage für einen Widerruf der Bewährung gefallen und die Fristsetzung stellt lediglich eine Formalität dar.
Eine sofortige Reaktion ist notwendig, um eine nachteilige Entscheidung abzuwenden. In der Regel besteht die anwaltliche Reaktion darin, zunächst Einsicht in die Verfahrensakte zu nehmen und die kurze Frist zur Stellungnahme zu diesem Zweck zu verlängern. Dann kann ergründet werden, aus welchen Gründen das Gericht den Widerruf der Bewährung erwägt und es können entweder passende Gegenmaßnahmen eingeleitet werden oder die Begründung kann widerlegt oder zumindest abgeschwächt werden. Die Hinzuziehung eines Verteidigers ist dringend anzuraten. Es geht um Freiheit oder Gefängnis, dazwischen gibt es keine Lösung. Die Zahlung einer Geldstrafe oder das Ableisten von Sozialstunden sieht das Gesetz in diesem Bereich nicht vor.
In welchen Fällen kommt ein Bewährungswiderruf infrage?
Ein Bewährungswiderruf kommt in Betracht, wenn der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und Auflagen durch das Gericht erhalten hat. Hält er sich nicht an die Auflagen, kann das Gericht ihm die Bewährung widerrufen.
Der häufigste Fall ist, dass der Betroffene in einem Strafverfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und die Strafe zur Bewährung (§ 56 StGB) ausgesetzt wurde. Ein Auflagenverstoß kann dann zum Widerruf der Bewährung führen (§ 56 f StGB). Weitere Fälle von Bewährungswiderrufen sind möglich, wenn der Verurteilte die Strafe teilweise bereits in der JVA verbüßt hat und (nur) die Reststrafe nach Verbüßung von 1/2 – Strafe oder 2/3 – Strafe zur Bewährung erlassen worden ist (§ 57 Absätze 1-2 StGB) Dann kann diese Bewährungsaussetzung nach § 57 Absatz 5 StGB widerrufen werden. Ebenso verhält es sich, wenn der Verurteilte eine Drogentherapie gem. § 35 BtMG absolviert hat und das Gericht die Reststrafe nach zur Bewährung ausgesetzt hat (§ 36 BtMG). Über § 36 Absatz 4 BtMG kann auch diese Bewährungsaussetzung sowohl nach § 56f StGB und nach § 57 Absatz 5 StGB rückgängig gemacht werden. Schließlich kann auch eine Bewährung von Maßregelvollzugprobanden (§ 67e StGB) widerrufen werden. Der Widerruf richtet sich dann nach § 67g StGB.
Allen Vorschriften über den Bewährungswiderruf gemeinsam ist, dass ein Widerruf dann angeordnet werden kann, wenn eine der folgenden Voraussetzungen vorliegen:
- Der Verurteilte begeht neue Straftaten
- Der Verurteilte verstößt gegen Auflagen
- Der Verurteilte hält nicht den Kontakt zu seinem Bewährungshelfer oder befolgt dessen Weisungen nicht
Nicht jeder Verstoß hat einen Widerruf zur Folge
Stellt die Justiz einen Verstoß gegen Auflagen fest, hat dies zwingende Konsequenzen. Ein Ermessen, ob das Gericht überhaupt gegen den Betroffenen einschreitet, hat das Gericht nicht.
Die gute Nachricht ist, dass ein Auflagenverstoß nicht automatisch zu einem Bewährungswiderruf führt. Als Option neben einem Widerruf der Bewährung kommt eine Verlängerung der Bewährungszeit in Betracht (§ 56f Absatz 2 Satz 1 StGB). Die Bewährungszeit kann für die Dauer von bis zu 5 Jahren hochgesetzt werden. In der Praxis üblich ist eine Verlängerung um 1 Jahr. Der Betroffene steht dann unter längerer Beobachtung, weitere Konsequenzen bestehen dann aber vorerst nicht.
Gerade kleinere Auflagenverstöße führen nur dann zu einem Bewährungswiderruf, wenn diese fortgesetzt und beharrlich begangen werden. Wird zum Beispiel eine Geldauflage nicht rechtzeitig gezahlt, wird der Betroffene in der Regel mehrfach gemahnt und auf einen möglichen Widerruf der Bewährung gesondert hingewiesen. Auch beim unzureichenden Ableisten von Sozialstunden erfolgt nicht sofort ein Widerruf, wenn der Betroffene sich mit der Arbeitsstelle in Verbindung setzt, eine Vereinbarung trifft und diese dem Gericht anzeigt. Ein nicht ausreichender Kontakt oder ein ungenügendes Befolgen der Weisungen des Bewährungshelfers führt erst zu Ermahnungen, bevor weitergehende Schritte eingeleitet werden.
Der Widerruf wegen neuer Straftaten
Der Hauptgrund für einen Widerruf der Bewährung liegt meistens in der Bekanntgabe neuer Straftaten. Neue Ermittlungs- und Strafverfahren werden regelmäßig abzuwarten sein, bevor ein Widerruf ausgesprochen werden kann. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Betroffene in dem neuen Verfahren die Tat eingeräumt hat. Dann darf das Bewährungsgericht auch schon vor einer rechtskräftigen Aburteilung die Bewährung widerrufen. Gute Strafverteidiger werden in Kenntnis dieses Umstands versuchen, das Strafverfahren ohne ein Geständnis des Mandanten zu beenden oder – sofern ein Leugnen aussichtslos erscheint – das Geständnis aus taktischen Gründen so weit wie möglich nach hinten verschieben. Das hat den Vorteil, dass dies dem Mandanten mehr Zeit verschafft, um sich eine positive Prognose erneut zu erarbeiten. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Justiz wird ein Termin zur Hauptverhandlung oft erst in einigen Monate angesetzt. In der Zeit kann sich der Mandant eine neue Arbeitsstelle suchen, eine neue Wohnung beziehen oder bei Drogendelikten Abstinenznachweise sammeln. Auch eine Therapie (bei Sexualstraftaten wie dem Besitz von Kinderpornographie) ist mitunter zeitlich möglich, zumindest können im Zeitpunkt der Hauptverhandlung erste Zwischenberichte präsentiert werden. Auf diese Weise können selbst einschlägige oder andere gewichtige Straftaten in der Bewährungszeit noch zu einer zweiten oder gar dritten Bewährungsstrafe führen.
Eine Prognose kann aber nur unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände abgegeben werden. Wichtig für die Beurteilung sind die bisherigen Vorstrafen, die Berichte des Bewährungshelfers (sofern vorhanden), der Zeitablauf zwischen der Aussetzung der Strafe zur Bewährung und der neuen Tat sowie Art, Schwere und Begleitumstände der neuen Tat.
Im Allgemeinen lassen sich aber folgende Kriterien benennen, die sich in stärkerem Maße nachteilig auswirken:
- Der Mandant ist mehrfach vorbestraft, er hat gegebenenfalls zu früheren Zeitpunkten bereits eine Strafe in der JVA abgesessen oder ihm wurden in der Vergangenheit schon einmal eine Bewährungsstrafen widerrufen
- Die neue Tat ist gewichtig und wird voraussichtlich ihrerseits nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden
- Die neue Tat verwirklicht denselben Straftatbestand oder bezweckt einen gleichgelagerten Rechtsgüterschutz (zum Bespiel Eigentums- und Vermögensdelikte)
- Die neue Tat wurde erst kurze Zeit nach dem letzten Urteil begangen (sog. kurze Rückfallgeschwindigkeit)
- Bei Drogendelikten: Der Mandant hat ein unbehandeltes Suchtproblem
- Bei Sexualdelikten (Kinderpornographie): Der Mandant hat eine behandlungsbedürftige Störung der Sexualpräferenz)
Dem stehen die nachfolgenden besonders günstigen Punkte entgegen, die eine Verlängerung der Bewährungszeit wahrscheinlich werden lassen:
- Bei der neuen Tat handelt es sich um ein Bagatelldelikt
- Die neue Tat steht nicht auf einer Linie mit der Vorverurteilung und erscheint als Ausnahme zu einem ansonsten regelkonformen Verhalten des Betroffenen
- Der Verurteilte hat trotz der neuen Tatbegehung einen guten Kontakt zur Bewährungshilfe und hat seine Lebensführung wesentlich verbessert
Der Widerruf trotz einer neuen Bewährung
Es gibt Amtsgerichte, die auch im Fall einer zweiten Bewährungsstrafe durch ein anderes Gericht die Strafe widerrufen möchten. Grundsätzlich ist jeder Richter unabhängig und darf für seine Entscheidung eine Prüfung vornehmen. An eine Entscheidung eines anderen Gerichts ist er nicht gebunden.
Allerdings setzt das Gesetz und die Rechtsprechung dem Bewährungsrichter Grenzen. Er wird es schwer haben zu argumentieren, dass dem Mandanten eine negative Gefahrenprognose auszustellen ist, wenn ein anderes Gericht sehr viel zeitnäher und unter Berücksichtigung der Bewährungsstrafe zu einer positiven Bewertung der Gefahrenprognose gekommen ist.
Notwendig kann es aber in diesem Fall werden, das Gericht auf diese Konsequenz hinzuweisen und unter Zuhilfenahme der einschlägigen Rechtsprechung zu argumentieren. Nicht selten wird dies in der Beschwerdeinstanz zum Erfolg führen, wenn das Amtsgericht sich weigert, vom Widerruf der Bewährung Abstand zu nehmen.
Der Ablauf der Verteidigung im Bewährungsverfahren
Stellt das Gericht einen Verstoß gegen Auflagen fest, wird es den Betroffenen mit dem Verstoß konfrontieren und ihn zu einer schriftlichen Stellungnahme auffordern oder einen persönlichen Anhörungstermin bestimmen. Mandanten müssen schnell sein: Oft wird Betroffenen nur eine kurze Frist zur Stellungnahme eingeräumt. An dieser Stelle sollte unbedingt ein Verteidiger eingeschaltet werden.
Meine Herangehensweise ist wie folgt:
Ich zeige die Verteidigung des Verurteilten an und beantrage Einsicht in die Strafvollstreckungsakte bzw. das Bewährungsheft, um eine adäquate Stellungnahme abgeben zu können. Zu diesem Zwecke beantrage ich eine Fristverlängerung, die erst mit Eingang der Verfahrensakten beginnt. Erfahrungsgemäß dauert die Übersendung der Akten durch das Gericht ca. 2 – 4 Wochen. Es handelt sich hierbei aber nur um Erfahrungswerte, eine gesetzliche Frist zur Übersendung der Akten an den Verteidiger existiert nicht. Aus den Akten sind alle wesentlichen Informationen wie das Urteil, der Bewährungsbeschluss und der bisherige Bewährungsverlauf zu entnehmen. Auch etwaige Stellungnahmen des Bewährungshelfers und der Staatsanwaltschaft befinden sich darin.
Die Akte wird dem Mandanten übersandt und es findet eine Besprechung statt, in dem der Akteninhalt erörtert wird. Im Anschluss fertige ich eine schriftliche Stellungnahme an. Um die Erfolgschancen für einen günstigen Verfahrensausgang zu erhöhen, umfasst diese Verteidigungsschrift die folgenden Punkte
- eine aktuelle Darstellung der gegenwärtigen Lebensführung des Mandanten
- eine Darstellung der Beweggründe, die zu einem etwaigen Auflagenverstoß geführt haben
- Rechtliche Ausführungen und Argumentation im Einzelfall
Sie können sich vorstellen, dass eine umfassende Verteidigungsschrift zu allen entscheidungsrelevanten Aspekten es dem Richter erleichtert, die Argumente überhaupt erst zu erkennen und in die Entscheidung einzubeziehen. Bestenfalls schließt er sich der Argumentation an, ansonsten muss er sich aber zumindest inhaltlich mit den Punkten auseinandersetzen. Ich vertrete die Auffassung, dass man es der Justiz leicht machen sollte, die gewünschte Position zu vertreten und ihr möglichst viel Arbeit zu machen, wenn das Gericht von dieser Position abweichen möchte. Eine lebensnahe Darstellung des Sachverhalts, der persönlichen Verhältnisse des Betroffenen und eine argumentative Aufbereitung bewirken genau das und schützen vor überraschenden Entscheidungen am Sachverhalt vorbei.
Sollte ein Anhörungstermin festgelegt worden sein, nehme ich an diesem Termin teil. Betroffene müssen unbedingt zu diesem Termin persönlich erscheinen. Im Fall des Nichterscheinens widerruft das Gericht regelmäßig die Bewährung. Im Termin wird die Kommunikation mit dem Gericht in der Regel durch mich geführt, wenn nichts anderes vereinbart worden ist. In jedem Fall findet eine Vorbereitung des Anhörungstermin statt. In der Vorbereitung wird dem Mandanten erläutert, welche Fragen das Gericht voraussichtlich stellen wird und wie die Verteidigungslinie im Termin konkret umgesetzt wird.
Rechtsmittel
Kommt es zu einem Widerruf, sollte unbedingt fristgerecht innerhalb von einer Woche ab Zugang der Entscheidung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde eingelegt werden. Es gibt hier nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Auch die sofortige Beschwerde sollte natürlich umfassend begründet werden. Leider erlebe ich es häufig, dass Mandanten sich erst nach einem bereits erfolgten Widerruf melden. In manchen Fällen hatten sie sogar einen Verteidiger, der allerdings keine oder eine völlig unzureichende Stellungnahme abgegeben hat. Das Ergebnis war praktisch vorprogrammiert. Im Beschwerdeverfahren hilft es dann sehr, die erforderliche Arbeit nachzuholen. Dass das klappen kann, belegen die hier veröffentlichten Entscheidungen.
Anspruch auf einen Pflichtverteidiger
Für das neue Ermittlungs- und Strafverfahren besteht ein Anspruch auf einen Pflichtverteidiger, wenn die neue Tat für sich genommen oder nach Widerruf der Vorstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als 1 Jahr führen könnte. Wenn die neue Tat noch nicht abgeurteilt worden ist, muss das Gericht eine Prognose zur Straferwartung für den Fall einer Verurteilung stellen.
Für das Bewährungsverfahren bezüglich der Vorstrafe besteht in der Regel kein Anspruch auf einen Verteidiger. Kommt allerdings ein Widerruf einer Strafe von mehr als 1 Jahr in Betracht, so kann auch für das Bewährungsverfahren ein Pflichtverteidiger notwendig sein.
Betroffene sollten daher stets von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich einen Verteidiger persönlich auszusuchen. Ich übernehme auch als Pflichtverteidiger Mandate, um auch Geringverdiener unterstützen zu können. Es kostet potenzielle Mandanten also nichts, bei mir anzufragen. Kommt eine Pflichtverteidigung nicht in Betracht, ist eine Zahlung in monatlichen Raten möglich. Zögern Sie deshalb bitte nicht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Lösungen lassen sich in der Regel finden und Schnelligkeit ist in Bewährungsverfahren das A und O.